Ruinen

Die junge Mutter geht jeden Tag auf den Friedhof. Sie sitzt auf einer grauen Bank. Vor ihr steht ein Kinderwagen. Im Kinderwagen soll ein kleines Kind schlafen. Es ist ein Mädchen. Neben ihr steht ein kleiner Junge. Er ist drei Jahre alt.

Die Bank steht vor einem Rondell. In der Mitte wächst eine große Stechpalme. Sonst gibt es Gras. Der Weg um das Rondell ist mit schwarzer Koksasche bestreut. Die Wege, die vom Rondell abgehen, sind weiß von kleinen Kieseln. Das ist gerade auf Friedhöfen sinnvoll. Die Schritte knirschen so stärker.

Die junge Mutter kommt jeden Tag hierher. Sie kennt noch keine Toten auf dem Friedhof. Ihre Mutter lebt noch. Ihr Vater ist anderswo begraben. Ihre Schwieger­mutter und ihr Schwiegervater leben noch. Ihr Schwiegervater wird bald sterben. Er wird auf dem Friedhof beerdigt werden. Die junge Mutter weiß das noch nicht. Sie ist mit ihren beiden Kindern auf dem Friedhof, weil es dort ruhig ist. Sie liest Liebesromane. Die Liebesromane bekommt sie von ihrer Schwiegermutter, wenn die sie ausgelesen hat. Die Schwiegermutter liest nur noch Liebesromane. Mit ih­rem Mann spricht sie nicht mehr. Er hat Asthma.

Die junge Mutter geht auf den Friedhof, weil das Dorf noch kaputt ist vom Krieg. Überall stehen Ruinen. Das ist kein schöner Anblick. Sie wohnt in einer Zwei-Zim­mer-Wohnung. Die hat eine Küche und ein Schlafzimmer. Das WC teilen sich vier Parteien. Hinter dem Haus gibt es einen Garten. Der Garten der jungen Mutter ist ungefähr fünf Quadratmeter groß. Sie zieht dort Möhren und Kartoffeln, auch wenn es kaum lohnt.

Das Dorf, in dem die junge Mutter wohnt, ist kein Dorf, sondern eine Gemeinde. Deswegen kennt man sich dort nicht richtig. Wenn die junge Mutter auf dem Friedhof sitzt, denkt sie an das Dorf aus dem sie kommt. Es ist nur sieben Kilome­ter entfernt. Aber mit dem Kinderwagen ist der Weg zu weit. Der kleine Junge kann auch noch nicht so lange laufen.

Auf dem Friedhof ist es sehr friedlich. Der kleine Junge läuft manchmal zur Stechpalme und versucht sie zu streicheln. Weil die Stechpalme sticht, schreit der kleine Junge. Die junge Mutter muß ihren Liebesroman weglegen und den kleinen Jungen trösten. Dann schreit auch das Kind im Kinderwagen. Die junge Mutter wird nervös. Sie weiß nicht, wen sie zuerst trösten soll. Meistens steht sie dann auf und schimpft mit dem kleinen Jungen. Sie gehen nach Hause. Auf dem Nach-Hause-Weg spricht die junge Mutter mit sich selbst. Manchmal bleibt sie vor einer Ruine stehen und erzählt dem kleinen Jungen, was dort früher gewesen ist. Wenn das Kind im Kinderwagen immer noch schreit, gehen sie schneller nach Hause.

In der Wohnung zündet die junge Mutter den Gasherd an. Sie will ihr kleines Kind nicht stillen, weil man davon schlechte Brüste bekommt. Deshalb muß das kleine Kind Kunstmilch von Nestlé trinken.

Manchmal kommt die Mutter der jungen Mutter aus dem nahegelegenen Dorf vor­bei. Sie erklärt der jungen Mutter, wie man sich als Mutter zu verhalten hat. Das ist ganz anders, als es die junge Mutter als Kind selbst erlebt hat. Die junge Mut­ter weiß nicht mehr, was richtig ist. Deswegen geht sie immer wieder auf den Friedhof. Dort liest sie Liebesromane. In den Liebesromane steht, wie sie mit ih­rem Mann einmal leben wird. Der Mann ist leider selten zuhaus. Er muß arbeiten. Die andern sagen: Sei froh, daß dein Mann eine Arbeit hat. Die andern wissen nichts von der jungen Mutter.

Auf dem Friedhof kann die junge Mutter davon träumen, wie sie mit ihrem Mann leben könnte. Manchmal bekommt die junge Mutter Post von ihrem Mann. Sie wartet immer in der Woshnung, bis der Briefträger gekommen ist. Wenn der Briefträger wieder gegangen ist, erzählt sich die junge Mutter ungefähr eine Stunde lang, was der Briefträger gesagt hat und was sie dem Briefträger hätte anworten können.

Wenn der kleine Junge quengelt, läßt sie ihn manchmal vorm Haus spielen. Sie hat ihm eingeschärft, daß er nicht zu den Ruinen gehen darf, weil dort Ratten sind. Ratten fressen einem die Ohrem vom Kopf, bevor man es gemerkt hat. Wenn Rat­ten Angst haben - und Ratten haben immer Angst - springen sie einem in die Ho­sen und verbeißen sich hoch oben - Du weißt schon wo.

Es gibt in dem Haus auch einen Keller. Der hat eine splitterige Holztür mit einem Vorhängeschloß. Man kommt nur von außen herein, weil er noch vom vorigen Haus stammt. Wenn man in den Keller geht, muß man singen, weil sonst ein Un­glück geschieht oder der schwarze Mann kommt. Wer der schwarze Mann ist, weiß man nicht. Der Schonsteinfeger bringt Glück, sagt die junge Mutter und lacht, wenn sie einen Schornsteinfeger sieht.

Wenn die junge Mutter einkaufen geht, geht sie zum Konsum. Dort ist sie Mitglied. Deswegen bekommt sie Rabatt. Der kleine Junge muß die Marken aufkleben. Die Markenbücher werden in einer Schublade gesammelt. Manchmal schickt die junge Mutter den kleinen Jungen mit den Markenbüchern zum Einkaufen. Sie schreibt auf einen Zettel, was der kleine Junge besorgen soll. Die junge Mutter schämt sich, selbst die Markenbücher wegzubringen. Sie befürchtet, für arm gehalten zu wer­den.

Der junge Vater geht nie auf den Friedhof. Der junge Vater freut sich an seinen Kindern, wenn er nach Hause kommt. Der junge Vater muß immer mit Geschäfts­freunden essen gehen. Er erzählt der jungen Mutter, was er in der letzten Woche gegessen hat. Wenn die junge Mutter verkochten Wirsing auf den Tisch bringt, sagt der junge Vater, daß es nirgendwo besser schmeckt als zuhaus.

Wenn der junge Vater wieder gegangen ist, muß die junge Mutter aufräumen. Dann kann sie nicht auf den Friedhof gehen. Am nächsten Tag holt sich die junge Mutter bei der Schiegermutter neue Liebesromane. In den Liebesromanen gibt es nur Mann und Frau. Kinder kommen in den Liebesromanen nicht vor. Dann geht die junge Mutter mit den Kindern wieder auf den Friedhof und liest die Liebesro­mane, bis der kleine Junge schreit, weil ihn die Stechpalme gestochen hat und das kleine Mädchen schreit, weil der kleine Junge schreit oder weil es Hunger hat.

Wenn die Möhren reif sind, muß die junge Mutter Möhren ernten. Der kleine Junge darf dabei helfen. Aber weil hinter dem Garten die Ruine beginnt, darf der kleine Junge nie weit weglaufen. Es ist eine große Arbeit. Und abends ist die junge Mut­ter sehr erschöpft.

Die junge Mutter ist jeden Abend sehr erschöpft. Sie kann gar nicht lachen. Das Lachen ist der jungen Mutter vergangen. Der kleine Junge darf auch nicht lachen, weil das der jungen Mutter weh tut. Das kleine Mädchen kann noch nicht lachen. Das tut der Mutter gut.

Auf dem Friedhof geht es der jungen Mutter am besten. Dort sind die Toten. Und weil ein langer Krieg war, ist der Friedhof sehr voll. Deswegen geht die junge Mut­ter auf den Friedhof. Sie liest Liebesromane, weil das Leben so tot ist. In den Lie­besromane ist das Leben lebendig. Der junge Vater ist auch lebendig. Aber er ist nicht da. Die Kinder schreien. Nur die Toten sind ganz still. Und da hat man seine Ruhe zum Träumen.

MK